Predigt zur Semestereröffnung im Grossmünster Zürich, gehalten am 20. Februar 2019.
Wie viel darf ich wollen?
Vom gestern in Frankreich verstorbenen Modekönig Karl Lagerfeld heisst es, er habe seine Kleider in Träumen gesehen. Morgens musste er sie nur noch aufmalen. Ein visionärer Mensch, offenbar voll und übervoll mit Bildern, die er Realität werden liess.
Wie viel Fülle lassen wir zu? Wie viel dürfen wir wollen? Am Beginn des Semesters scheint es mir passend, diese Frage zu stellen. Was ist es, das wir wollen? Und wie viel davon ist ok? Wie viel Erfolg, wie viel Zufriedenheit, wie viel Neues, wie viel Weite?
Wie viel darf ich wollen? Wie viel darfst du wollen? Das Thema für diese Predigt kommt aus Ps 31,9: Du stellst meine Füsse auf weiten Raum. Ps 31 ist ein Vertrauenspsalm auf Gott, der aus dem Elend herausführt. Eine Art «Collage», die verschiedene Motive nebeneinander stellt, ohne eine klar durchgeführte Struktur. Der Beter war gefangen, von Feinden umgeben und in grosser Gefahr ... Gott hat ihn befreit und auf weiten Raum gestellt. Wie ist das zu verstehen? Beliebt ist eine psychologische Deutung: Der enge Raum kann leicht für ein Gefühl von Enge und Ausweglosigkeit stehen, für Trauer und Verzweiflung. Und analog kann der weite Raum für ein Gefühl von Weite stehen, das sich einstellt, wenn Sorgen überwunden sind oder Verzweiflung weicht. Eine innere Weite, die Gott schenkt.
Für diese Deutung könnte Vers 8b sprechen: «Du kennst die Sorgen meiner Seele». Sind also v.a. psychische Sorgen gemeint und entsprechend eine gleichnishafte, innere Weite? Sind die Füsse quasi «Füsse der Seele»?
Weit ausgreifende Lebendigkeit für Körper und Seele
Ich denke, mit dieser Deutung, die sehr gefällig ist, macht man es sich zu einfach. Der Psalmvers spricht vom ganzen Menschen und einer Weite, in die er mit seinen realen Füssen gestellt wird. Wir sind nicht nur gefühlige, seelische, geistige Wesen, sondern wir sind körperliche Wesen in einer physischen Welt. V.10 zeigt dies deutlich: Das Auge, der Hals und Bauch werden genannt, sie sind beeinträchtigt von der Bedrohung. Enge oder Weite bestimmen uns jederzeit und die Frage, wie weit unser Bewegungsspielraum, unsere Handlungsmöglichkeiten reichen, sind grundlegend für ein erfülltes Leben. Wie expansiv darf Ihr Leben sein? Haben Sie das Gefühl von Weite, vor sich einen weiten Raum, den sie ohne Scheu einnehmen dürfen?
Der Vers spricht davon, dass ein Mensch Raum einnimmt, den Gott ihm gibt. Und dies läuft nicht ohne Konflikte ab. Der Anfang des Verses hält in wunderbarem Kontrast des Bildes fest: Du hast mich nicht in die Hand des Feindes ausgeliefert. Nein, stattdessen stehe ich auf meinen eigenen Füssen und der Raum vor mir ist weit und frei. Gott hat die Feinde besiegt, aber den Raum einnehmen muss der Beter selbst.
Mir ist dieser Vers seit meiner Jugend einer der Lieblingssätze in der Bibel. Für mich ist er eine der stärksten Aussagen darüber, dass wir zur Freiheit berufen sind. Dass wir gross und viel wünschen dürfen. Dass Gott uns viel anvertraut, es unter unsere Füsse legt. Dass wir nicht definiert werden durch die Familie, aus der wir kommen. Dass wir nicht begrenzt werden durch die aktuelle Situation, im Studium, Beruf oder einer unglücklichen Beziehung. Dass unser Wunsch nach Freiheit und Wachstum, nach weit ausgreifender Lebendigkeit legitim ist.
Zu gut, um wahr zu sein?
Vers 9 hat dieses starke räumliche Bild, die Füsse auf weitem Raum, und wenig später, in Vers 16, kommt die Zeit hinzu: Meine Zeit steht in deinen Händen.
Das klingt vertraut, da schwingt die Übergabe an Gott mit. Gott setzt Raum und Zeit, der Mensch hat beides nicht in der Hand. So bin ich und vielleicht auch ihr vertraut, zu denken. Wir betonen gern die Grenzen menschlicher Möglichkeiten. Wir Christen betonen gern, dass der Mensch Geschöpf ist und von Gott alles empfängt. Wir haben schnell ein ungutes Gefühl, wenn es um Macht und Power geht. Wir relativieren, psychologisieren, hegen solche Aussagen der Bibel ein.
Die Gefahr ist: Der Mensch steht als passives Wesen da. Gott handelt, der Mensch empfängt. Im Bild von Ps 31,9 aber ist beides da: Gott stellt die Füsse auf weiten Raum – der Mensch muss losgehen. Er darf losgehen.
Und dafür muss er die falsche Scheu ablegen, als sei das da nicht sein Raum vor ihm. Als sei das alles nicht für ihn. Zu gut um wahr zu sein. Ach nein, das hab ich nicht verdient. Da muss ein Haken dran sein an diesem Angebot, dieser Anfrage, diesem Menschen, dieser Chance. Das ist zu viel für mich, bist du denn verrückt, so ein extravagantes Geschenk? Für mich? Peinlich ist das, beschämend, wenn wir jenseits unserer Standards beschenkt werden.
Du stellst meine Füsse auf weiten Raum, was für eine Weite! Ich sehe das Meer am Horizont und Flüsse, Tiere, Wälder, eine Ebene, aber ach. Nein danke, lieber nicht. Merci vielmals für das Angebot, ich bleib lieber hier. Wo ich mich auskenne, was mir vertraut ist. Wo ich nicht zu sehr herausrage und auffalle.
Was willst du, das ich für dich tue?
Wo ist der Mensch, der sagt: Ja, das nehm ich gern! Wow, was für eine Chance. Her damit! Ich denke an den schreienden Blinden in Mk 10, der Jesus unverschämt hinterherruft: Du Sohn Davids, erbarme dich über mich! Er akzeptiert nicht, dass er blind ist. Er lässt diese Chance nicht an sich vorübergehen. Auf keinen Fall!
Und Jesus bleibt stehen und fragt: Was willst du, das ich dir tue? Eine wunderbare Frage! Eigentlich komplett überflüssig, oder? Der Blinde könnte sagen: Danke, dass du fragst. Ich wünschte mir, dass du mir ein grosszügiges Almosen gibst. Das würde mir sehr helfen. Danke, Herr!
Wie viel darf ich wollen?
Welche Blindheit akzeptiere ich, unbewusst, reflexhaft? Sie gehört ja zu mir, die anderen kümmern sich um mich, es geht mir ja gut, man muss dankbar sein. Was darf ich schon
verlangen?
Ich sehe den Kranken, den Jesus fragt – wieder überflüssigerweise – Willst du gesund werden? Joh 5 erzählt von ihm, er ist seit sage und schreibe 38 Jahren krank und liegt am Teich Betesda. Ja, was sollte er wohl wollen? Aber so belanglos ist die Frage Jesu gar nicht. Wenn du 38 Jahre ein einer Situation lebst, dann weisst du, wie sie zu nehmen ist. Du hast dich eingerichtet und kommst zurecht. Du hast dein System. Dieser Mann aber ist anders. Ein Engel bewegt von Zeit zu Zeit das Wasser im Teich und der erste, der dann hineinsteigt, wird gesund. Er versucht es, wieder und wieder. Aber nie schafft er es, der erste zu sein.
Wie viel darf ich wollen? Nach 38 Jahren, nach 10 Jahren, nach 50 Jahren?
Willst du gesund werden, fragt Jesus? Und er will und Jesus heilt ihn.
Wie extravagant biblische Beter ihr Leben anschauen können, das zeigt auch Psalm 23. Wir haben diesen bekanntesten Psalm in der Lesung gehört, für die Leser nun jetzt zum Nachlesen:
Psalm 23 (Übersetzung Buber/Rosenzweig)
Ein Harfenlied Dawids.
ER ist mein Hirt, mir mangelts nicht.
Auf Grastriften lagert er mich,
zu Wassern der Ruh führt er mich.
Die Seele mir bringt er zurück,
er leitet mich in wahrhaftigen Gleisen um seines Namens willen.
Auch wenn ich gehn muß durch die Todschattenschlucht,
fürchte ich nicht Böses, denn du bist bei mir,
dein Stab, deine Stütze - die trösten mich.
Du rüstest den Tisch mir meinen Drängern zugegen,
streichst das Haupt mir mit Öl, mein Kelch ist Genügen.
Nur Gutes und Holdes verfolgen mich nun alle Tage meines Lebens,
ich kehre zurück zu DEINEM Haus für die Länge der Tage.
Haben wir diesen Psalm schon einmal so gehört, mit der Betonung der Fülle? «Mir wird nichts mangeln.» Nichts, gar nichts. Wie sehr nehmen wir das beim Wort?
Verfolgt vom Glück
Der gedeckte Tisch lässt eine feierlich-fröhliche Stimmung anklingen, lässt Bilder entstehen von grossen, üppigen Festen, mit gebratenem Fleisch und Wein. Nicht nur ein symbolischer Bissen ... Sogar noch mehr gesteigert wird das Bild, wenn der Beter sagt: «Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang». Der Beter wird geradezu verfolgt vom Guten. Er braucht dem Glück nicht nachzujagen, sondern es kommt auf ihn zu, ja verfolgt ihn!
Die Füsse auf weitem Raum, der übervoll gedeckte Tisch, diese unverschämte Fülle, da reagieren wir schnell abwehrend. Wir haben vielleicht ein negatives Bild von Reichtum, wir denken an Ausbeutung und die Schere zwischen Arm und Reich. Noch bevor wir richtig zur Kenntnis genommen haben, dass Gott Fülle verspricht, sind wir schon dabei, sie gedanklich wegzugeben. Bin ich nicht ein schlechter Mensch, wenn ich viel will oder sogar viel habe?
Das Bewusstsein vom Genügen
Die Amerikanerin Lynne Twist, eine wohlhabende Frau, die sich dem Kampf gegen den Welthunger verschrieben hat und dafür u.a. Fundraising bei den Reichsten der Welt betreibt, die also die Ärmsten der Armen und die Wohlhabendsten kennt, sagt: Das Bewusstsein von Mangel ist uns allen gemeinsam, egal, wieviel oder wie wenig Geld wir haben. Das Bewusstsein, dass nicht genug da ist, dass jemand zu kurz kommt, dass es niemals reicht. Sie hat diesen Glauben durch die Bank bei jedem gesehen, der mit Geld zu tun hat. Darin sieht sie die Wurzel des Armuts- und Hungerproblems. Weil wir von einem grundsätzlichen Mangel ausgehen, werden wir Konkurrenten. Das ist es, was unfrei macht.
Einmal traf sie Mutter Teresa und lernte von ihr, auch die Reichen wertzuschätzen und ihnen genauso zu begegnen, wie den Armen. Zu sehen, dass jeder Mensch ein Bedürfnis nach Verbindung hat und dass jeder etwas beitragen kann. Sie lernt die grosszügige Seite vieler wohlhabender Menschen zu sehen, die nach Wegen suchen, mit ihrer Fülle etwas zu bewegen. In ihrer Arbeit spricht sie Arme und Reiche gleichermassen auf die Fülle an, die sie haben. Sie lenkt ihren Blick auf all das, was ihr Leben reich macht. Und nicht auf das, was fehlt. Sei es Geld oder sei es Zeit mit der Familie.
Und dieser Blick für die Fülle verändert dann das Handeln, von Armen und Reichen gleichermassen. Wenn ein Bewusstsein für die Fülle entsteht, die mir geschenkt ist, dann handle ich anders.
Selbstverantwortlich, nicht passiv.
Nicht aus Angst, sondern Dankbarkeit. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass ich viel wollen und viel haben darf.
Dass Gott nichts gegen Fülle hat.
Dass Gott einen weiten Raum schenkt,
damit ich losgehe.
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