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„Allzeit bereit“ – Oder: Dein treuer Freund, der Bleistift.

Aktualisiert: 25. Jan. 2021



Dieser Artikel setzt unsere Serie “Schreibaffären” fort. Darin geht es um die sinnlichen Seiten des Schreibens. Die anderen Artikel gehen darüber, was eine Schreibaffäre ist, und wieso das leere Blatt ein Raum von Freiheit sein kann.


Er ist nicht romantisch, sondern äußerst pragmatisch.


Nüchtern ist er immer zur Hand und sich nicht zu schade für vorläufige Notizen oder Skizzen. Er ist schlicht und unprätentiös. Seine Aufgabe im Leben ist es, zu dienen. Dir und deinen Gedanken. Dir und deinen Ideen. Seien sie auch noch so unausgereift und stümperhaft-fragmentiert. Es gibt ihn schon ewig, aber nie hat er sich in den Vordergrund gedrängt. Immer war es seine Aufgabe, einer Sache nützlich zu sein. Er ist die ewige graue Eminenz an deiner Seite: verlässlich, gefügig – da, wenn man ihn braucht. Ohne Allüren und Launen.


Dein Bleistift.


Das mag jetzt alles nicht sonderlich aufregend klingen. Aber dennoch besitzt die graue Eminenz unter den Stiften eine anziehende Sinnlichkeit, die man dann entdecken kann, wenn man sich einmal genauer mit ihm auseinandersetzt: seiner Haptik, seiner Beschaffenheit, seinem Klang, seiner Geschichte.


Und wenn du ihn täglich verwendest – du dir täglich von ihm helfen lässt, dann erkennst du auch schnell, dass Grau nicht gleich Grau – Mine nicht gleich Mine – und Griff nicht gleich Griff ist. Er schlägt nicht ein wie eine Bombe und es wird wahrscheinlich nicht die große Liebe auf den ersten Blick sein. Aber es kann eine Liebe fürs Leben werden, die du langsam Schritt für Schritt kennengelernt hast, bis du genau den gefunden hast, der zu dir passt.


Du kannst suchen und prüfen – diese Zeit lässt er dir.


Er ist geduldig und nimmt es dir auch nicht übel, wenn du ihn mal länger oder auch sehr lange liegen lässt. Immer wieder ist er da und schreibt immer wieder mit der gleichen Zuverlässigkeit deine Gedanken nieder. Wie vor Monaten (oder gar Jahren), als du ihn zum letzten Mal verwendet hast.


Der Bleistift hat eine treue Anhängerschaft. Nicht nur mich. 😉


Er hat eine große Community im Internet, Blogs, ja ganze Läden und Geschäftsideen, die sich nur mit ihm und seinen fein differenzierten Unterschieden beschäftigen. Sie halten ihm die Treue, weil ER ihnen bereits in der Kindheit ein treuer Begleiter gewesen ist. In vielem haben wir mit ihm unsere ersten zögerlichen Schritte getan, wurden von ihm unterstützt, als wir lernten zu schreiben und zu zeichnen. Und jeden Fehltritt hat er uns geduldig verziehen, sich ausradieren lassen – um wieder mit uns von vorne anzufangen.


Er bringt uns in Kontakt mit den ureigensten Kräften unserer Kindheit: Als wir noch laufen lernten, indem wir es einfach taten, hinfielen und wieder aufstanden, um weiter zu üben. Und als wir noch schreiben lernten, indem wir es einfach taten, es wieder wegwischten und neu begannen. Als Fehler-Machen noch kein Zeichen des Versagens war, sondern selbstverständlich und zum Prozess des Lernens und der kreativen Weiterentwicklung dazu gehörte. Und als uns noch erlaubt war, die Zeit dafür aufzuwenden, die ein intensiver Lernprozess eben benötigt.


In Erinnerung daran vermag er uns auch noch heute Halt beim Entwickeln unserer Ideen und dem Bewältigen komplexerer Aufgaben geben und er erträgt es geduldig, dass wir stundenlang dabei auf ihm herumkauen.


Dabei ist dieser geduldige unprätentiöse Freund durch eine bewegende Geschichte gegangen und war beteiligt an großen gesellschaftlichen Umstürzen.


So ist sein Werdegang beispielsweise verbunden mit den sozialen Anliegen der Arbeiterbewegung und nicht nur die frühen Nürnberger Stiftemacher des Hauses Staedtler waren Vorreiter beim Abbau des alten unterdrückenden Zunftsystems, sondern auch der Bürgerrechtler Martin Luther King organisierte Jahrhunderte später im Jahre 1964 einen Boykott der Bleistiftfirma Scriptio, die seit den 20er Jahren vorrangig schwarze Frauen unter dem Gesichtspunkt, möglichst geringe Löhne zahlen zu müssen, eingestellt hatte.[1] Die Proteste wuchsen und wuchsen und wurden schließlich zum Flaggschiff der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Auch an der Formel seiner Schreibkraft – der Graphitmine – ist lange und immer wieder herumgetüftelt worden, bis die gewünschte Qualität erreicht worden ist. Einen großen Umbruch gab es, als Frankreich 1793 Großbritannien den Krieg erklärte und von da an auf den Import des hochwertigen Borrowdale-Grafits verzichten musste. Frankreich wurde durch diesen Verlust mit einem Schlag die Bedeutung dieses stillen Stiftes bewusst und der Erfinder Nicolas-Jaques Conté wurde beauftragt, Ersatz zu liefern.


Dieser machte sich nun daran, fein pulverisierten Grafit mit Ton und Wasser zu vermischen und katapultierte damit nicht nur Frankreich weltweit an die Spitze der Bleistiftindustrie, sondern legte auch den Grundstein für die Mischung des Graphits, wie wir sie in weiten Teilen – mit einigen Varianten in den Zutaten – noch heute haben. Die Menge des Tonpulvers bestimmt seitdem die Härte des Bleistifts: je geringer der Anteil, desto weicher der Strich.[2] Und jede/r Bleistiftliebhaber/in hat hierdurch die Möglichkeit, sich seinen/ihren Stift nach ihren ganz eigenen Vorlieben auszuwählen.

Mein Lieblingshärtegrad ist 2B – also ziemlich weich.


Ich liebe den dunklen satten Ton, den dieser Härtegrad erzeugt. Die verhältnismäßig zahlreichen Pausen, die durch das häufige Anspitzen dieser weichen Spitzen entstehen, nutze ich entweder als Schnauf-, Denk- und Teeschluckpausen. Oder ich schiebe sie damit etwas auf, dass ich ca. 3 bis 5 angespitzte Stifte jeweils bereitliegen habe, die ich erst dann anspitze, wenn sie alle stumpf geschrieben sind. Das ergibt dann eine etwas ausgedehntere Pause und das Anspitzen ist ein eigener Akt für sich, mit einer ganz eigenen Funktion und Ästhetik. Hierzu aber in einem späteren Artikel mehr …


Hätte man das gedacht, dass dieser bescheidene Begleiter seine ganz eigene aufwühlende Geschichte hat? Und auch seine Geheimnisse – wie z.B. der mittlerweile zum Geheimnis gewordene Zusammenhang zwischen Bleistift und Tonbandkassette.


Ein stiller, geduldiger Freund mit einer unerwartet kurvenreichen Geschichte ist er also, mein Bleistiftfreund. Und er hat seine ganz eigenen Legenden hervorgebracht wie Eberhard Fabers „Blackwing 602“, Dixons „Ticeronda“ oder seinen etwas abgewandelten Verwandten, einen Fallminenbleistift, der den glorreichen Namen des größten Diamanten der Welt erhielt: „Koh-i-noor“.


Ein stiller Freund ist er – aber er schweigt nicht.


Vielmehr begleitet er dein Schreiben leise flüsternd und geheimnisvoll raschelnd, und sein liebevolles Wispern kann man leicht überhören, wenn die Gedanken intensiv und geräuschvoll in uns toben und sortiert und geordnet auf das Papier gebracht werden wollen.


Es ist der Klang der beständigen Freundschaft, den du da hörst.


Und klaglos lässt dieser Freund sich aufbrauchen, um dann immer wieder neu da zu sein für dich.

Viele Schreiberlinge sind ihrer Bleistiftmarke ein Leben lang treu. Wechseln selten oder nie. Und selbst wenn: Er verzeiht dir – anders als sein Kollege, der Füller – jeden Seitensprung – oder sogar Polygamie!


Nur:


Hast du den Richtigen gefunden, dann willst du das alles gar nicht mehr und lässt dich einfach glücklich fallen in seine wohltuende Beständigkeit.


Deine Doro 🙂

[1] Vgl. John Z. Komurki u.a. in: Schreibwahren. Die Rückkehr von Stift und Papier, S. 15 f.

[2] S.o., S. 12. Ff.

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