Worum es geht:
Gedichte sind brotlose Kunst? Weit gefehlt! Vor zwei Tagen konnten wir die eindrucksvolle Performance der jungen Poetin Amanda Gorman bei der Inauguration des amerikanischen Präsidenten erleben. Ihre Poesie, ihr Auftreten, ihr Einmischen in zeitaktuelle Themen verbindet sie mit den hier besprochenen Lyrikerinnen. Sie alle sind der Beweis: Poesie ist lebendig, jung und erfolgreich! Dieser Artikel unserer langjährigen Gastautorin, ihres Zeichens selbst Lyrikerin Ulrike Melzer (Jg. 1981, aus Weimar) zeigt eingehend, worauf der Erfolg zweier gegenwärtiger Lyrikerinnen beruht - und wie jede*r Schreibende von ihnen lernen kann. Denn wenn es mit Gedichten gelingt - wo sind dann die Grenzen?
Die Lyrik und ich
Als ich mein erstes Gedicht schrieb, fühlte sich das an wie Verliebtsein. Ein Rausch, ein Gefühl mit allem verbunden zu sein, Euphorie und Schmetterlinge.
Essen, Schlaf? Wer braucht das schon.
Ich schrieb einfach drauflos, ohne Plan. Das Schreiben passierte mir genauso wie das Verlieben ja auch einfach so passiert. Wir entscheiden uns nicht bewusst für eine bestimmte Person, vielmehr wird die magische Verbundenheit mit dieser Person als ein unerwartetes Wunder wahrgenommen. Mir ging es ähnlich. Ich musste nicht über die richtigen Worte nachdenken und so ist es bis heute geblieben. Ich kann mir nicht vornehmen ein Gedicht zu schreiben, doch ich muss die richtigen Bedingungen schaffen.
„many tried but failed to catch me i am the ghost of ghosts everywhere and nowhere i am magic tricks within magic within magic none have figured out i am a world wrapped in worlds folded in suns and moons you can try but you won't get those hands on me“
(Rupi Kaur, aus „The Sun and the Flowers“)
Mich hat nicht erst seit diesem Zeitpunkt die Macht dieser kurzen Texte fasziniert. Gedichte können sehr viel: Sie lösen sofort Bilder im Kopf aus, die Emotionen freisetzen, angenehme genauso wie unangenehme. Verloren geglaubte Erinnerungen kommen hervor, ein Begreifen der Welt wird möglich. Gedichte haben die Macht Türen in unserem Unterbewusstsein zu öffnen. Sie schaffen es auf diese Weise zu heilen, weil sie uns mit der uns innewohnenden Kraft verbinden, der Kraft die etwas erschaffen kann.
Gedichte geben augenblicklich Energie zurück, ohne lange analytische Prozesse und komplizierte Techniken. Durch ihre Kürze können sie schnell gesehen und verbreitet werden, mit visuellen Stilmitteln verbunden und mit Musik durch Sprechen, Gestik, und Mimik verstärkt werden.
Sie funktionieren sehr gut in unserer Zeit, die durch Social Media auf kurze Texte und visuelle und akustische Reize reduziert ist. Sie können sensibel machen für politische und gesellschaftliche Missstände, Wut, Trauer und Freude ausdrücken.
Da wundert es mich schon, immer wieder mit den alten Vorurteilen konfrontiert zu werden: Lyrik sei ein Nischenthema. Was für nebenbei. Gedichtbände verkaufen sich nicht. Lyrik ist nur ein auch, niemals ein ausschließlich. Man schreibt Gedichte ... und. Niemals nur Gedichte. Lyrik hat eigene kleine Verlage, Zeitschriften und Verbände. Lyrik lässt nicht jeden rein. Lyrik wird nebenbei entdeckt, irgendwie ein Luxusthema. Schön aber unnötig. Und viel zu teuer...
„People don't look at art because it's perfect.“
(Nikita Gill, aus „Wild Embers“)
Als ich 15jährig mit dem Gedichte schreiben begann und meine Lebensvision plante, prallte ich an der sehr harten Wand dieser Glaubensüberzeugungen ab. Wenn ich mich mit Gedichten irgendwo bewarb, hieß es immer: Ja, ganz nett, aber wo bleibt die Prosa? Ich lernte, was ein Schriftsteller alles ist und was nicht. Meine Songtexte zu sehr Spoken Word Poetry, zu wenig Struktur, meine Gedichte eben nur ein „auch“.
Ich lernte also, dass ich nichts habe, nichts bin und die nächsten Jahre ganz viel lernen muss. Da ich beim Lernen schon immer versagt hatte, liess ich die Poesie in der Nische, behandelte sie als Luxus, obwohl ich doch kaum Geld zum Überleben hatte. Aber so muss es doch sein, oder? Der hungernde Poet, der trotz Krankheit und Existenzängsten weiterschreibt. Dieses Klischee begegnete mir so oft, dass es wie eine Wahrheit erschien: Es gab einfach keine Alternative dazu.
„Fairytales exist They always have We just have to rewrite them over and over again til they fit“
(Nikita Gill, Wild Embers)
Manchmal blitzte die Wahrheit ganz kurz durch: Wenn mir mein Schreiblehrer sagte: "Deine Gedichte sind genial, deine Prosa ... ähm ... wird noch." Er riet mir dazu den Fokus auf meine Talente zu richten, nicht auf das, was noch im Werden ist. Ich hörte nicht auf ihn, weil ich glaubte, Kunst darf nur sein, wenn sie erlaubt wird.
Also blieb die Wahrheit, die ich schon längst kannte, da, wo die meisten Dichter ihre Texte verstecken: In der Schublade. Auf Zetteln, die ich vollkritzelte, wenn niemand hinsah, und die ich ab und zu bei selbstorganisierten Lesungen vortrug, mit ein paar gelangweilten Zufallsgästen.
Auf ungeschickt-bemühten Literaturveranstaltungen, geleitet von irgendeinem Literaturszenepromi, der schon irgendwas geschafft hatte. Denn einfach ein paar unbekannte junge Leute lesen lassen, das geht doch nicht. Bei einer dieser Veranstaltungen wurde ich als diejenige vorgestellt, die eine Rechenschwäche und daher keinen Schulabschluss hat. Mit Herablassung und elitärer Haltung, alles interessierte, nur nicht die Texte der Teilnehmenden. Ich lernte: Du als Mensch musst etwas darstellen, ein Klischee erfüllen. Die Texte sind nur Nebensache. Sind ja nur Gedichte.
„Mama i hope you're proud of me. I took all the awful things they did, and turned them into empathy. Mama, i hope you're proud of me, I may have let their poison under my skin, but i let it drip out of my fingers as poetry.“
(Nikita Gill)
Slam-Poetry war mir zu sehr Sport, die gefälligen Gedichte, die auch den Mainstream begeisterten, zu belanglos. Lyrik kann viel mehr, dachte ich damals.
Manchmal denke ich, es ist diese Angst vor dem Wilden, Anarchischen, das den Gedichten innewohnt, vor ebendieser radikalen Klarheit, die heilen und enthüllen will. Man muss die Gedichte zurechtstutzen, intellektualisieren oder trivialisieren um sie akzeptieren zu können.
„you tell me to quiet down cause my opinions make me less beautiful“
(Rupi Kaur)
Gedichte im Hier und Jetzt
Und dann änderte sich etwas. Ganz langsam, anfangs, und dann immer lauter. Die Welt änderte sich, die Wahrnehmung. Bisher hatte ich nur Poeten verehrt, die nicht mehr lebten. Sie haben kein oder nur wenig Geld mit ihren Gedichten verdient. Natürlich trifft das auf Kunst im Allgemeinen zu, nur Wenige können ausschließlich davon leben. Doch es gibt sie und es sind nicht so Wenige, wie allgemein vermutet.
Doch Gedichte haben eine Sonderstellung. Es schien immer so, als wäre das Gedichteschreiben so nebenbei zu erledigen, neben dem „richtigen“ Schreiben und den sogenannten „Brotberufen“.
Natürlich konnte man als Dichter zu Ruhm und Ehre gelangen, Preise gewinnen, Lyriker genannt werden - doch es ging nicht ohne dieses „dazu.“
Ein Gedichtband als Bestseller? Undenkbar.
Ich mochte die Herangehensweise der Beatpoeten, weil sie ihre Texte verbreiteten, teilten, um sie leben zu lassen, weil sie aus dem Hier und Jetzt entstanden. Patti Smith und Jim Morrison, die sich von ihnen inspirieren liessen, vertonten einige Gedichte als Songtexte und ihre Berühmtheit als Musiker brachte ihnen auch einen kleinen Erfolg mit ihren Gedichtbänden. Doch beide haderten mit dieser Notlösung. Sie mochten die Musik, nicht das Stardasein, das ihrer präferierten zurückgezogenen Dichterexistenz im Weg stand.
Ich wollte eine*n Dichter in unserer Zeit sehen, der*die die Bestsellerlisten anführt. Nicht mit Lyrik als hoher Kunst, einer Trennung, die zwischen Leserschaft und Buch steht. Ich wollte Dichter*innen sehen, die sich voll und ganz ihrer Dichtung widmen, Gedichte, die leben und im Hier und Jetzt, als Teil der Zeit, in der sie entstehen und doch über sie hinausgehend, einen Wert besitzen.
Vor einigen Jahren entdeckte ich dann solche Dichter*innen, nicht immer entsprach ihre Lyrik meinem persönlichen Geschmack, sie waren anders als alles, was ich bisher unter Lyrik verstanden hatte - doch alle Punkte meiner oben genannten Liste trafen auf sie zu. Ich stelle in diesem Text die beiden Lyrikerinnen vor, die mich am meisten beeindruckt haben: Rupi Kaur und Nikita Gill.
Die neue Welle
Rupi Kaur wurde 1992 in Punjab, Indien, geboren, kam 1996 mit ihrer Familie nach Kanada. Sie wuchs in Toronto auf, wo sie auch heute lebt.
2015 erschien ihr Erstling „Milk and Honey“ im Verlag Andrews McMeel Publishing und wurde 3,5 Millionen Mal verkauft: Ein Gedichtband stand über ein Jahr auf der New York Times Bestsellerlist!
Nikita Gill erreichte zwar nicht den Status „Bestseller“, ist aber mit ihren Gedichtbänden „Wild Embers“, „Fierce Fairytales“, „Your Soul is a River“, „The Girl and the Goddess“, „Great Goddesses“ und „Your Heart is a Sea“ richtig erfolgreich. So erfolgreich, dass sie davon leben kann und Promis zu ihren Fans gehören.
Sie und die anderen Poetinnen der „neuen Welle“ der sogenannten „Instagrampoeten“ haben eine neue zeitgemäße Form für eine zeitlose literarische Gattung gefunden. Ihre Texte werden ewig funktionieren, doch sie haben anders als die Poet*innen vor ihnen die Zeit, in der sie leben, die modernen Medien nicht abgelehnt, sondern ganz lässig als Möglichkeit genutzt. Nicht verkrampft auf Applaus hoffend, sondern mit einem Selbstverständnis, das man nicht lernen kann - entspringt es doch einem tief verwurzelten Wissen, das nicht erlernt werden kann.
Die Kritik, die von etablierter Seite kam, ist sicher gerechtfertigt, wenn es um Trittbrettfahrer und seichte Texte im Stil eines Eintrags im Poesiealbum geht. Doch es ist ein Fehler, Schlichtheit und fehlende Tiefe miteinander zu verwechseln. Erfolg ist nicht planbar, doch ich habe mich gefragt, ob man aus dem Handeln der hier vorgestellten Poetinnen eine Strategie ablesen kann, die mutlose Schreiberlinge motiviert.
Rupi Kaur
Rupi Kaur studierte Rhetorik und professionelles Schreiben an der University of Waterloo. Das macht sich natürlich gut im Lebenslauf einer Schriftstellerin. Doch es hatte nichts mit ihrem Erfolg zu tun. Dafür musste sie ihre Zeichnungen und Gedichte nur auf den Plattformen Tumblr und Instagram veröffentlichen. Auch das hätte nichts zum Erfolg beigetragen, wenn sie nicht eine wachsende Anzahl Follower bekommen hätte. Wie erreichte sie das? In erster Linie, weil sie etwas anders machte: Ihre Gedichte erzählten Geschichten, ihre Sprache: Klar, roh, in your face, schlicht, schön. Ihre Gedichte erzählten von ihrer Einwanderungsgeschichte, dem Gefühl von Fremdheit, ihrer Kultur, dem Leben als junge Frau, von Traumata, Vergewaltigung, Liebe und Angst. Sie hat keine Angst vor schweren Themen und klarer Sprache. Ihre schlichten Zeichnungen erzählten die Geschichte weiter. Die ganz eigene Ausdruckskraft einer Künstlerin. Sie hatte etwas zu sagen, traf einen Nerv. Ihre Texte und Zeichnungen haben etwas Kathartisches, Heilendes.
„you are an open wound and we are standing in a pool of your blood refugee camp“
(Rupi Kaur)
Der Post, der sie berühmt machte, war nur eine logische Fortführung dieser fehlenden Angst: Eine Fotoserie über Menstruation. Eines dieser völlig harmlosen Fotos - die Künstlerin mit blutiger Jogginghose - wurde von Instagram gelöscht. Wahrscheinlich wird man irgendwann darüber lachen, dass ein Foto einer menstruierenden Frau für Unmut sorgen, einen Skandal auslösen kann.
Ihr erstes Buch „Milk and Honey“ wurde von ihr selbst publiziert, dann meldete sich ein Verlag, dann wurde es zum Bestseller. Sie wartete nicht. Sie tat einfach, was sie wollte, und die Dinge entwickelten sich. Sie richtete sich nicht nach den Erwartungen anderer, des Marktes, der Experten. Nur nach ihren eigenen.
Noch etwas machte sie anders: Viele übliche Gedichtbände bestehen aus wahllos zusammengewürfelten Texten, die nichts miteinander zu tun haben. Das ist anstrengend für die Leser*innen und schade für die Autor*innen, denn die Texte kommen so nicht zur Geltung.
„Milk and Honey“ dagegen ist einem Roman ähnlicher, weil er eine Geschichte erzählt, einen Aufbau und ein Thema hat. Die Illustrationen tragen dazu bei, sich das Buch gern bei verschiedenen Gelegenheiten durchzulesen. Es geht um eine Reise - die ihrer Familie, die zuvor beschriebenen Themen, wie in einem Roman. Ein Gedichtband, der eine Struktur besitzt, eine Aussage und ein klares Thema hat und deshalb greifbar wird.
„every time you tell your daughter you yell at her out of love you teach her to confuse anger with kindness which seems like a good idea til she grows up to trust men who hurt her cause they look so much like you“
Auch ihr zweiter Gedichtband „The Sun and the Flowers“ ist auf diese Weise komponiert, diesmal ist das Thema Liebe und Beziehungen, wieder sind Texte dabei, die bei diesem Themenkomplex gar nicht anders als feministisch sein können. Auf dem Cover eine Sonnenblume - sie umfasst das Welken und das Erblühen. Ihr drittes Buch „Home Body“ widmet sich der Weiblichkeit, dem eigenen Körper und dem Gefühl von Zuhause.
Und dann ist da noch die völlig andere Vorstellung vom Veröffentlichen der eigenen Texte. Einfach unkontrolliert alles heraushauen, diese Einstellung war mir bisher als dilettantisch bekannt. Doch es ist dieses Teilen mit der Welt, hineinspringen in die Sichtbarkeit, das Rupi Kaur überhaupt zu Aufmerksamkeit und Erfolg geführt hat. Kostenlos etwas geben, nicht um Teil einer literarischen Elite zu werden oder sich bewerten zu lassen. Es geht darum, zu geben und sich dieses Label Poetin nicht zu verdienen, sondern es einfach zu leben.
Interessant sind auch die Vorbilder, Inspirationen und Einflüsse. Bei Rupi Kaur ist es der Dichter, Maler und Philosoph Khalil Gibran. Große Themen mit Schlichtheit und Wucht ausdrücken - das gelingt auch Rupi Kaur in ihrer ganz eigenen Art und Weise.
„bombs brought entire cities down to their knees today refugees boarded boats knowing their feet never touch land again police shot people dead for the colour of their skin last month i visited an orphanage of abandoned babies legt on the curbside like waste later at the hospital i watched a mother lose both her child and her mind somewhere a lover died how can i refuse to believe my life is anything short of a miracle if admidst all this chaos i was given this life"
(Rupi Kaur, circumstances)
Nikita Gill
Nikita Gill hat ebenfalls eine starke, eigenwillige Attitüde und Mission. Wie Rupi Kaur gehört auch sie zu der Volksgruppe der Sikh. Sie wurde in Belfast geboren, lebte in Belfast und Neu-Delhi, studierte dort Design und schloss einen Master an der Universität für kreative Künste ab.
Sie arbeitete jahrelang als Betreuerin und hat so auch ihre Themen gefunden: Psychische Krankheiten, Traumata, Feminismus. Sie möchte Frauen Mut machen und den Blick auf psychische Krankheiten verändern. Seit ihrer Kindheit schreibt sie, veröffentlichte ihre Gedichte dann auf Tumblr und Instagram, doch ihr erstes Manuskript wurde 137 mal abgelehnt.
An dieser Stelle ein paar Worte zum Thema Selfpublishing: Einer meiner liebsten Dichter ist Walt Whitman. Nur wenige wissen, dass er seine „Grashalme“ selbst veröffentlicht und vermarktet hat, bevor die berühmte Gedichtsammlung in anerkannten Verlagen publiziert wurde. Auch Nikita Gill und Rupi Kaur fingen mit Selfpublishing an, damit zogen sie die Aufmerksamkeit der Verlage auf sich. Entweder/oder ist zu eng gedacht. Warum nicht sowohl als auch?
Das Problem mit der Lyrik entsteht erst durch eine unnötige Trennung zwischen verschiedenen Formaten und Genres.
Wir müssen damit anfangen, in Büchern zu denken.
Ist ein Gedichtband ein wichtiges Buch unserer Zeit? Auf die Bücher von Rupi Kaur und Nikita Gill trifft das zu. Sie leisten wichtige Beiträge zu den wichtigen Themen unserer Zeit.
„damaged people love you like a crime scene before a crime has even committed They keep running their shoes beside their souls every night one eye open in case things change whilst they sleep Their backs are always tense as through waiting to fight a sudden storm that might engulf them“
(Nikita Gill)
Nikita Gill hat sich darauf spezialisiert, weibliche Archetypen zu thematisieren, Märchen neu zu schreiben und mit einer sanften, klaren Sprache auf gesellschafts-politische Themen aufmerksam zu machen, die ihr am Herzen liegen. Sie hat eine Meinung und teilt diese immer wieder mit.
So stellt sie die sexistischen „Sad Girl“ Umschreibungen, die die Medien für sie und ihre Kolleginnen gefunden haben, klar. Die Dichterin, deren Vorbilder Robert Frost und Sylvia Plath sind, gibt zu bedenken, dass emotionale Gedichte, die sich mit Schmerz und Angst beschäftigen, von Männern ebenso wie von Frauen geschrieben wurden.
Mit ihrer unaufgeregten und ruhigen Art verschafft sie sich beharrlich immer wieder Gehör, stellt Klischees richtig und ist eine Stimme für diejenigen, die ihre verloren haben.
"The Way you love passionate and all encompassing is not something you should be ashamed of If they could not handle your passion if they were scared of it if they now make you feel guilty for loving them too much don't you dare allow them to make you doubt the courage you carry like the sea in your soul"
(Nikita Gill, Wild Embers)
"Ich schreie, weil ich zum Schweigen gebracht worden war, als ich jünger war. Unsere Geschichten haben Bedeutung und Wert. Das möchte ich in der Literaturwelt sicherstellen."
(Nikita Gill im Gespräch mit Bianca Sparacino)
Rap und Poesie - eine kurze Sidenote: Die Rapperin Haiyiti
Es gibt eine deutsche Rapperin, die nicht dem Klischee entspricht. Ihre Texte sind versponnen, dadaistisch und ja - poetisch. In Videos macht sie sich über HipHop-Klischees lustig und erzählt in ihren Texten Geschichten, die an Jörg Fauser und die Autoren der Beat Poetry erinnern. Ronja Zschoche, so der bürgerliche Name der Hamburger Rapperin, entwirft Fantasiewelten und haut Zeilen raus wie:
„Alles gut so wie es ist, glitzernde Tränen im Scheinwerferlicht.“
„Ich finde keinen Frieden, denn ich glaube an die Liebe, Gefühle überwiegen, die Wahrheit wird zur Lüge.“
Vor ihrer Rapkarierre studierte sie Kunst. In ihren Texten geht es nicht um ihr Privatleben, sie erzählt Geschichten von billigen Hotels, Gangstern, Diven und Ganoven. Ob sie nun ihre Bilder ausstellte oder einen Song auf Youtube veröffentlichte - alles war Kunst, selbst ausgedacht und inszeniert, ohne Stylisten, einfach mit fettigen Haaren und Sonnenbrille ein Video gedreht. Damit fiel sie auf, verwirrte aber auch: Was macht diese Frau? Hiphop, Gedichte, Kunst?
Und warum macht sie sich nicht hübsch?
Das was sie macht, ist Grenzen sprengen. Das was alle drei miteinander verbindet, ist genau das: Sie sprengen Grenzen.
Keine Grenzen
Mit einer einzigen Bezeichnung kann man diese Poetinnen kaum erfassen - sie sind Künstlerinnen. Wenn Rupi Kaur ein Gedicht nicht nur vorliest, sondern mit Gestik, Mimik und Stimme performt - ist sie dann nicht näher am HipHop? Wenn eine Zeichnung schon das ganze Gedicht erklärt - ist sie dann nicht eher bildende Künstlerin? Ist Nikita Gill nicht eher eine Aktivistin oder Selbsthilfeautorin?
„Your Heart was made to break and heal together, so stop picking at the wounds and leave it be.“
(Nikita Gill, Wild Embers)
Die Grenzen verschwimmen, weil das Leben für diese Frauen Kunst ist und sie neugierig genug sind alles auszuprobieren. Sie limitieren sich selbst nicht und bringen uns dazu auch die Grenzen ihrer Leser*innen zu hinterfragen.
„borders are man-made they only divide us physically don't let them make us turn on each other“
(Rupi Kaur)
Rupi Kaur und Nikita Gill sind nur zwei Beispiele einer einer nicht klischeebehafteten Dichterexistenz, die gerade deshalb funktioniert, weil sie mehr wollen als Lyrikerinnen sein. Weil es ihnen nicht um Anerkennung ging, bekamen sie die einzig wahre Anerkennung: Ein Leben führen zu dürfen, das ganz auf die Poesie, ihre Lebensaufgabe, ihre Kunst ausgerichtet ist. Und die Möglichkeit, genau die Menschen zu erreichen und zu inspirieren, die nicht nur schöne Worte hören wollen, sondern eine Bewusstseinsveränderung erleben. Natürlich gibt es keine Garantie für Erfolg, doch die Liebe zum Tun, das Beanspruchen eines Rechts auf mehr Raum für Poesie, bringt einen Erfolg, der weit über den Wunsch hinausgeht, von der eigenen Berufung leben zu wollen.
(Rupi Kaur)
„Every Rejection i've ever had is fuel. I've never known that i can be anything else other than a writer. Writing is like breathing to me. Every time someone told me that they were rejecting me, they were essentially telling me I was breathing wrong. I learnt to breathe better.“
(Nikita Gill)
Über die Autorin dieses Artikels:
Ulrike Melzer ist Jahrgang 1981, Poetin und Indieautorin, malt und singt. Seit ihrer Kindheit schreibt sie Gedichte und traut sich nun, diese auch mit anderen zu teilen. Ihre Gedanken über das Schreiben teilt sie auch gern in Blogartikeln und Instagram-Livevideos.
Es geht ihr darum, mit Worten Filme im Kopf entstehen zu lassen, die Wahrnehmung zu schärfen und Bewusstsein zu schaffen. Sie lebt in Weimar. Ihr Gedichtband "verloren & gefunden" erscheint 2021 in der edition SchreibStimme.
Das erste Kapitel "städte" gibt es als Ebook bei Amazon und das letzte Kapitel "connections" als Print bei Amazon, Thalia und überall, wo es Bücher gibt.
"connections" bei Amazon.
"städte" bei Amazon.
Ulrike Melzer @poet_81 bei Instagram.
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