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Verbotene Früchte. Erinnerungen

Aktualisiert: 20. Okt. 2020



Am Anfang war alles gut.


Bevor wir wussten, dass wir von dem einen Baum nicht essen sollten. Ich meine, es war ja wirklich alles gut! So viele Bäume, Sträucher, aller Art, es war unfassbar. So viele Früchte, wir konnten uns gar nicht satt sehen und essen. Ein Traum. Es war so viel, dass wir niemals geschafft haben, alle zu probieren.


Und dann: Gebannt von dem, was wir nicht hatten. Von der einen Frucht, die nicht zu essen war. Unübersehbar, wunderschön, in der Mitte des Gartens, stand der Baum und schien zu flüstern: Sieh her! Sieh mich an, bin ich nicht schön?


Von da an war alles anders. Es zog mich, es lockte mich, etwas, eine unsichtbare Macht, zu diesem einen, Verbotenen, immer wieder und immer wieder. Ich gab nach, Stück für Stück. Zuerst den Fragen, die kamen, ich weiss nicht woher. Warum sollten wir nicht davon essen? War die Frucht giftig? Davon war keine Rede gewesen. Würde sie nicht schmecken? Auch davon nicht.


Und sie sah gut aus! Hätte sie vielleicht riskante Nebenwirkungen? Es machte doch keinen Sinn, was sollte denn an Erkenntnis schlecht sein! Was das andere bedeutete, „sein wie Gott“, wusste ich nicht, aber ich dachte, dass es das grösste Geheimnis sein musste. Ich hatte gar keine Idee, was ich damit anfangen würde. Darauf kam es nicht an. Wenn ich das Geheimnis gelüftet hätte, würde es sich schon zeigen. Ich dachte, ich würde das Ganze verstehen, den Sinn und Zusammenhang von allem.


Gebannt von dem, was wir nicht hatten. Inmitten der Fülle. Unübersehbar, flüsternd: Komm, sieh her!


Und ich sah. Zuerst nur, wenn ich zufällig vorbei kam. Ich warf einen Blick auf den Baum. Ein Baum eben, ein sehr schöner, aber doch ein Baum. Mit Früchten zum Essen. Dann ging ich immer häufiger gezielt in die Mitte des Gartens. Ich betrachtete die Blätter, die Früchte. Nichts Auffälliges, nichts, was das Verbot erklären würde. Es begann, mich rasend zu machen.


Gebannt von dem, was wir nicht hatten. Eigentlich war ich ab da schon verloren. Ich konnte mich nicht mehr für das andere interessieren, es schmeckte mir nicht, es war langweilig.


Dann passierte es. Ein Versehen! Ich beschaute eine Frucht, ich studierte sie genau, und streifte sie leicht. Hatte mich jemand gesehen? Nein. Und dann – nichts. Es passierte nichts. Ich überlegte: Wir sollten doch die Früchte nicht berühren, hiess es, oder? Nun, aber es passiert ja gar nichts. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm?


Gebannt von dem, was ich nicht hatte. Ich ass nicht mehr, ich sah nichts mehr von all der Schönheit um mich herum. Es frass mich auf, langsam, von innen her. Wenn ich doch nur …


Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich wirklich von der einen Frucht essen würde. Es war das einzige, was mich noch beschäftigte. Was dann passierte, ist Geschichte.


Das ist lange her. Ich habe mich verändert. Ich habe gelernt, all die Wunder und Geschenke zu sehen. Die Fülle. Obwohl ich den Garten nur noch in meiner Erinnerung sehe.


Die Fülle in dieser Welt ist anders, unscheinbarer oft und vergänglicher.


Es braucht Übung, sie ist für unsere Augen nicht mehr so gut zu erkennen, aber mit der Zeit habe ich es gelernt. Ich habe meine Augen trainiert, von den inneren Bildern des Gartens her, und nun suchen sie von selbst nach Spuren und finden sie überall, es ist ganz erstaunlich. Ich bin eine Momentsammlerin geworden. Die Dankbarkeit und Freude kamen dann von ganz allein.

Manchmal denke ich, dass es so eigentlich schöner ist als am Anfang.


Die Verborgenheit macht alles Schöne noch wertvoller.

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