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AutorenbildFriederike Kunath

Zerbrechen und ganz werden. Eine Weihnachtsgeschichte

Aktualisiert: 20. Okt. 2020



Weihnachten, das war in meiner Familie, in meiner Kindheit ein wahr gewordenes Märchen. Die Adventszeit war wirklich eine Vorbereitungszeit, mit Stern und Adventskranz, und dann, am 24., Heiligabend, kamen sie alle hervor: Die gedrechselten Engel und Bergmänner, Lichtträger, mit Kerzen auf den Händen. Weihnachtspyramiden, kleine und eine grosse. Eine geschnitzte Holzkrippe. Ein grosses Engelorchester, aus ganz fein und genau gearbeiteten Engeln und detailgetreu dargestellten Instrumenten. Es gab einen Violinenengel und einen Bratschenengel und den Unterschied konnte man sehen!


In der Weihnachtsstube waren sie alle versammelt. Die Schränke, Tische waren freigeräumt für sie, dazu der Baum geschmückt mit Strohsternen, Silberkugeln, Lametta und echten Wachskerzen. Im ganzen Raum erstrahlten 60 bis 70 Kerzen, es war eine einzige Pracht für Augen, Nase und Herz, ja auch für die Ohren, denn das Brennen so vieler Kerzen kann man hören! Es gibt ein leises Knacken manchmal und fast meint man, das Flackern der Flammen zu vernehmen …


All die Figuren, gesammelt über Jahrzehnte, viele noch aus der Kindheit meiner Mutter, wurden Jahr für Jahr sorgfältig verpackt und zu Weihnachten ebenso sorgsam hervorgeholt.


Sie trugen Spuren all dieser Jahre.


Russflecken, Brandwunden, eine abgebrochene Hand, ein fehlender Stock, Wachsflecken auf den Gewändern der Engel. Wir waren eine grosse und lebhafte Familie, mit fünf Kindern, da gab es immer wieder Unfälle – und Jahr für Jahr etwas zu reparieren!


Mein Vater leimte die Kranken wieder zusammen, manchmal ergänzte er ein Teil, und wir Kinder machten fasziniert mit. Meine Schwester und ich begannen damit, neue Figuren zu basteln und sie zu den vorhandenen zu stellen: So gab es einen Chorsänger aus Knete, der gemeinsam mit seinen Kollegen aus Holz auf der Kommode stand und sang. Die Krippe war ergänzt um Kamelfiguren, original aus Israel, und einen Hirten aus Keramik, der aus Peru stammte.


Es passte alles zusammen.


Alles wurde immer schöner durch die Spuren, die Reparaturen, die Ergänzungen.


Ein Erlebnis ist mir besonders im Gedächtnis geblieben und so möchte ich euch mitnehmen in meine Kindheit und euch die Geschichte vom doppelten Puppenhaus erzählen.


Ich war vielleicht sechs Jahre alt und bekam von meiner Mutter ein Puppenhaus geschenkt. Es war schlicht, aus Holz, hatte ein Dach, das auf einer Seite bis auf den Boden ging und auf der anderen nur fast. Es hatte in der Mitte, genau unter dem Giebel, zwei Zimmer, das waren Wohnzimmer und Schlafzimmer, und links unten noch eines, die Küche. Voll ausgestattet, mit Tapete, Möbeln und Puppen. Sicher spielte ich eine Weile voller Freude damit. Doch irgendwann im Laufe des Jahres hörte es anscheinend auf mich zu interessieren, es stand wohl herum, ein Schicksal vieler Weihnachtsgeschenke.


Ich staunte nicht schlecht, als ich am darauffolgenden Weihnachtsfest erneut ein Puppenhaus bekam – oder nein, es war nicht irgendeines, es war MEIN Puppenhaus! Aber wie anders es aussah! Neue Tapete, neue Möbel, jetzt gab es sogar kleine elektrische Lämpchen! Und vor allem war angebaut worden. Rechts unten, da wo vorher das Dach in der Luft aufgehört hatte, war es erweitert worden und reichte jetzt auch bis auf den Boden. Dadurch gab es einen Raum mehr, ein Badezimmer mit Badewanne! Schön mit grünen Fliesen ausgestattet.


Meine Mutter hatte das Haus renoviert, repariert und erweitert. Und für mich wurde es jetzt noch wertvoller.


Viel schöner als es ein neues Haus gewesen wäre, war dieses alte, verschönerte.


Die Kreativität, Sorgfalt und Liebe meiner Mutter steckten jetzt in jedem Winkel und besonders in dem angebauten Bad!


Sie hat sich immer um jede Figur, jede Weihnachtskugel, jedes einzelne Detail gekümmert, es gut versorgt, und mit einer Andacht ausgepackt, so feierlich, dass hier schon das Fest begann. Es ging nicht um Dekoration, sondern diese alten, reparierten Figuren waren Familienmitglieder, sie hatten eine Geschichte und sie belebten die Räume. Alles hatte eine Bedeutung, war voller Sinn und Freude und Trost.


Das doppelte Puppenhaus hat sich mir eingeprägt als ein Symbol für die Freude am Bewahren, daran, etwas ganz zu machen und nicht wegzuwerfen.


Denn darin verbirgt sich ein tiefer Trost: Auch wir werden von einer Liebe bewahrt, auch wenn wir einmal zerbrechen, wir werden nicht weggeworfen. Du magst zerbrechen, Risse bekommen, Brandspuren, doch du verlierst niemals deinen Wert.


Ja, du wirst umsorgt und geheilt und immer wertvoller in den Augen dessen, der dich liebt.

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