Und dann sind da
Die Toten der Anderen
Mir wurde erzählt
Von unseren Toten
Hört ihr auch
Von euren Toten
Mir scheint
Noch schlimmer ist es
Mit denen
Die nicht
Vorhanden sein dürfen
Weggerechnet
Wie könnten wir
Die Inexistenten
Begraben
Die Schatten der deutschen Kriegsvergangenheit ...
Die Biografien unserer Eltern und Großeltern bestimmen unsere Handlungen und Wahrnehmungen auf einer ganz tiefen inneren Ebene und aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir uns auch in den Folgegenerationen damit auseinandersetzen. Dieses Phänomen hat mittlerweile sogar einen Namen erhalten: Transgenerationales Trauma.
Noch lange sind sie nicht abschließend bearbeitet und führen ein Geisterdasein in unseren Träumen, Verhaltensmechanismen, Menschen- und Selbstbildern!
Doch wie spricht man angemessen und verarbeitungsförderlich von den Schatten, die heute noch die Menschen der 1920er bis 1945er Jahrgänge an den Silvesterabenden in namenlosem Entsetzen erstarren lassen? Mit großem Schrecken denke ich dabei selber an die misslungenen Aufarbeitungsversuche von Schule und Lehrplan diesbezüglich! Eine Vermittlung mit dem Holzhammer, in der wir an den weiterführenden Schulen mit den Kriegsereignissen in Filmen wie „Schindlers Liste“ oder Besuchen in Konzentrationslagern traktiert wurden und ihnen nicht ausweichen konnten. Es war ja Schule. Und Pflicht. Ein knallhart an Information und Fakten orientierter Geschichtsunterricht, der beflissentlich zu Erneuerung und Auffrischung der Traumata mit ihren Entsetzen geführt hat.
Fortgesetztes Verbrechen der Bildungsinstitutionen an der Nachkriegsgeneration!
Lilli Gebhards Gedichte sind anders!
Auch dieses Buch trägt die Aufforderung in sich, sich den unaufgearbeiteten Themen der Vergangenheit zu stellen und sie sich zu erzählen.
Dieser kleine Gedichtband widmet sich dem Thema mit seiner feinen Sprache allerdings sehr sensibel: Verharrt jeweils nur eine Weile in emotionalen Bildern und der Betrachtung des Grauens – nie ein plattes Kriegsbild, nie eine „Schlagzeile" – spannt dabei aber einen Bogen zur Hoffnung und schafft Bilder, in die man sich mit seiner ganz eigenen Geschichte hineinfühlen und -schreiben kann. Die Autorin gibt der emotionalen Ebene der erlebten Traumata eine Sprache und eröffnet damit der individuellen und gesellschaftlichen Verarbeitung eine neue, wesentlich authentischere Dimension. Eine Dimension, die Raum für die Grenzen der Rezipienten hat und für die Grenzen der Erzählenden:
Heute ging ich in den Wald
Tote sammeln
Seht wie viele ich gefunden habe
Mehrere Hunderttausend
Ich kann nicht alle zählen
sie lagen in Gruben
Raben zeigten mir ihren Weg
Dazu die in den Wäldern
Doch dafür brauche ich mehr Zeit
Inspiriert wurde Lilli Gebhard zu dieser Gedichtsammlung durch die Auseinandersetzung mit Texten von russlanddeutschen Mennoniten, mit denen sie sich im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigte. In vielen Berichten stieß sie auf leidvolle Lebensgeschichten. Momente der Trauer, in denen das Erlebte durchfühlt und verarbeitet werden konnte, blieben jedoch offen. Das Defizit, das bis heute noch immer unverstanden im gesellschaftlichen Untergrund Deutschlands wühlt, und in seiner Bedeutung weit unterschätzt wird: Kein Platz für Emotionen!
Denn noch immer ist es gesellschaftlicher Erwartungskonsens, dass Emotionen sich mittels Faktenaufdeckung beruhigen lassen sollen. BITTE! Möglichst schnell! ... Noch immer wirkt die haarersche Nazipädagogik nach, die eine möglichst emotionsgefrostete Herangehensweise an jegliche Themen propagiert.1 Noch immer fehlt unserer Gesellschaft die emotionale Kompetenz, um alte und neu erlebte Schrecken wirklich verarbeiten zu können. Zu groß die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren und in ihnen zu versinken.
Lilli Gebhards Buch „Wie Schatten werden“ zeigt einen Weg, wie es gelingen kann, Emotionen zu integrieren und aufzuarbeiten.
Die Autorin schafft es wie in einem kunstvollen mehrstrophigen Lied, ihre Leser an die Hand zu nehmen und durchwandert mit ihnen gemeinsam mit Hilfe von Märchenmetaphern und Naturbildern die Fragen von Trauer und Schatten. Vom Anfang bis zum Schluss. Glasklar benennen die kleinen lyrischen Kunstwerke die perfiden Wirkungsebenen von unbearbeiteten Traumata im Stillen, ohne jemals funktional zu werden oder ihren lyrischen Klang zu verlieren. So schön sanft und eindringlich zugleich ist Lilli Gebhards Sprache dafür, was schon seit zu langer Zeit im Untergrund schwelt und unserer Generation die Kräfte zu Wachstum und Entfaltung raubt!
Nicht nur sprachlich, sondern auch äußerlich ist Lilli Gebhards „Wie Schatten werden“ ein kleines feines Büchlein: So hübsch das Cover vom Manuela Kinzel Verlag gestaltet! Aber es ist kein Büchlein zum Träumen!
Es ist ein Buch mit einer in viele klare Worte verpackten sehr dringlichen Botschaft: Wie sollen wir jemals unsere Toten und Opfer der Vergangenheit begraben, wenn wir dazu keine adäquate Sprache haben und nicht von ihnen sprechen können, weil das damit verbundene Entsetzen zu groß für uns ist? Wie sollen wir selber jemals aus der Erstarrung erwachen – individuell und gesellschaftlich – in der wir seit jenen Erlebnissen unserer Eltern und Großeltern feststecken?
Doch die Botschaft der Autorin endet mit der Hoffnung:
Wer sucht
Hört
Den Atem der Welt
Wer im Kopf lebt
Was soll der hören
Wenn nicht regeln
Und Strukturen
Neues wächst aus Ritzen
Aus Spalten am Wegesrand
Worte wachsen
Aus Atem und Geist
Danke, Lilli, für die Worte, die du uns mit diesem kleinen wertvollen Juwel gibst!
Sie treffen unmittelbar ins Herz und zeigen einem die eigenen inneren Schatten der Ereignisse, für die uns immer noch die richtige Sprache fehlt!
Viel mehr brauchen wir von solchen Büchern, die uns sanft an die Hand nehmen und uns – einfühlsam und authentisch – in eine neue Sprachfähigkeit führen.
Eure Doro
Lilli Gebhard: „Wie Schatten werden“,
Dessau 2021
76 Seiten, Paperback
11,50 EUR
Erschienen im Manuela Kinzel Verlag
ISBN 978-3-95544-148-7
1Johanna Haarer: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“
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